Das stimmt. Ich schloss die Tür hinter mir und trat ein paar Schritte auf Markus zu, der nun doch aufgestanden war. Aber auch du brauchst hin und wieder Ruhe. Ich legte etwas den Kopf schief und musterte den RK800 vor mir einige Momente lang eingehend. Hast du dir die auch genommen? Die Antwort war Nein, das war klar, aber ich wollte es ihn trotzdem aussprechen hören. Dass Markus wohlauf war, war wichtig, nicht nur für Jericho, sondern auch für mich persönlich, deshalb war ich ja nun hier. Ich sorgte mich viel und oft um andere, Markus bildete da keine Ausnahme, trotz seines Standes.

Es fühlte sich so an, als wären unsere Rollen vollkommen vertauscht worden, oder zumindest meine eigene, denn ich war mir sicher, dass ich ungefähr dasselbe Gespräch bereits einmal mit Carl geführt hatte, nur dass ich damals in der Rolle von Simon gewesen war. Ich trat einen Schritt auf ihn zu, bevor ich meinen Kopf leicht einzog, um ihn von unten herauf ansehen zu können. Nein., gestand ich ihm laut, ich hatte das Gefühl, dass er auch genau das gewollt hatte, ich bemerkte schon, wie sehr das alles an mir zehrte, nicht körperlich, aber... innerlich, auf eine ganz andere Art und Weise, die mir noch etwas unvertraut war. Mein Blick war weich, aber schuldbewusst. Ich hatte nicht daran gedacht.

Ich stemmte tadelnd eine Hand in meine Seite und schüttelte den Kopf über Markus, mein Blick war allerdings sanft, als ich ihn musterte, wie er mich da so von unten heraus ansah, mit seinen verschiedenfärbigen Augen und einem Blick, dem man kaum nicht vergeben konnte. Dann wird es langsam Zeit, oder? Wann warst du zuletzt im Stand-By-Modus?

Simon hatte immer diesen Blick, den ich schon oft beobachtet hatte, wie er andere dazu überredete, Dinge zu tun, die sie nicht glaubten, dass sie konnten, an denen sie aufgegeben hatten oder bei denen sie sich unsicher waren. Ich hatte dessen Wirkung allerdings bisher nie so direkt zu spüren bekommen, aber ganz mühelos brachte der PL600 mich dazu, ihm dann doch ergeben die Wahrheit zu berichten, 148 Stunden, 23 Minuten und 8 Sekunden. Bald eine ganze Woche, aber ich hatte einfach keinen Impuls dazu verspürt, nicht wenn ich gerade all diese Pläne hatte, die noch umgesetzt werden sollten. Außerdem war ich ein starkes Modell, ich hielt durchaus Belastungen aus, zudem war ich unverletzt, anders als die meisten Androiden, die hier ankamen.

Ich legte meine Hand sanft auf Markus' Schulter, als ich nun nahe genug heran gekommen war, und nickte zufrieden. Du solltest dir ein paar Stunden Ruhe gönnen. Jericho braucht dich, aber es braucht dich auch bei voller Kraft. Wir Androiden brauchten diese Ruhe nicht unbedingt, aber es war gut sich etwas Ruhe zu gönnen, auch um seine eigenen Gedanken mal zur Ruhe kommen zu lassen. Es war gesund für den Geist, wenn es der Körper schon nicht brauchte.

Meine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen, während ich Simon mit ergebenem Blick ansah, er hatte einfach etwas an sich, das so entwaffnend war, ich hatte es bereits bei North gesehen oder bei Josh, er spielte immer den Mediator, den Mittelmann, und auch jetzt konnte ich nicht anders, als ihm im Inneren zuzustimmen. Ich weiß, dass du Recht hast, Simon. Ich ließ meine Schultern unter seiner Hand etwas sinken und sah dann etwas an ihm vorbei, wie ins Nichts. Ich wusste natürlich, dass er recht hatte, aber gerade wenn ich mir wieder so viele Sorgen machte, ich hatte das Gefühl, ich konnte es nicht, so sehr ich auch wusste, dass ich von meiner Programmierung und physisch her dazu in der Lage war, so fühlte ich mich doch wie im Gegenteil, es war sehr interessant und seltsam gleichermaßen. Ich sah hilfesuchend zu Simon. Aber ich kann einfach nicht. Ich habe das Gefühl, dass zu viele Gedanken in meinem Kopf sind. Zu viele Ideen. Zu viele Gefühle.

Nun wieder mit besorgtem Blick musterte ich eingehend Markus' Züge, ehe ich den Kopf ein wenig schief legte, meine LED blinkte ein paar Momente. Vielleicht hilft es dir ja darüber zu reden, wenn du willst höre ich dir gerne zu. Ich hatte meine Hand noch nicht von seiner Schulter genommen, trat nun aber instinktiv noch etwas näher heran, all das ehrlicherweise auch, weil Markus so viel Wärme abstrahlte, die mir doch auch trotz des geschlossenen raumes und der neuen Kleidung immer wieder sehr fehlte.

Wenn du etwas anderes zu tun hast, kann ich das auch verstehen, Simon., wehrte ich sofort etwas ab, als ich seinen besorgten Blick bemerkte, denn es war nicht so, als würde es mir so schlecht gehen, in den Stand-by Modus zu gehen war immerhin auch nicht etwas, was man zwingend benötigte, es half nur dem System hier und da, aber es war keine Verpflichtung für Androiden, zumindest nur selten. Es gibt viele, die Hilfe dringender benötigen., sprach ich weiter, wieder ruhiger, bevor ich zu der Steuerkonsole nickte, Aber wenn du gerade nichts besseres zu tun hast, möchtest du dich setzen? Es gab keine Stühle hier, aber man konnte sich ganz gut auf die Konsole selbst setzen, wie ich festgestellt hatte.

Ich denke ich kann gerade kaum etwas besseres zu tun haben. Ich sah Markus mit einer Mischung aus Geduld und Verständnis an, ehe ich nickte und mich mit etwas Schwung auf die Steuerkonsole setzte, auch wenn ich dafür seine Schulter loslassen und aus dem direkten Bereich seiner Wärme treten musste. Du kümmerst dich seit du hier bist nur um die anderen, ich denke es ist an der Zeit, dass sich auch jemand um dich kümmert. Ich ließ die Beine kurz etwas schwingen und lächelte Markus dann leicht an. Willst du mir sagen wie du dich gerade fühlst?

Ein schmales Lächeln bildete sich auf meinen Lippen ab, als Simon sich sehr selbstverständlich für mich Zeit nahm, auch wenn ich wusste, dass es alles andere als das war. Ich hatte Simon beobachtet, wie auch alle anderen Androiden in JERICHO, wenn auch ihn wahrscheinlich mehr, dadurch dass ich ihn mir als Anführer zum Vorbild genommen hatte. Er hatte viele Qualitäten, an denen ich arbeiten wollte, aber vor allen Dingen kannte er die Androiden hier, er wusste, wie er mit ihnen umgehen musste. Widersprüchlich., antwortete ich, während ich mich direkt neben Simon auf der Steuerkonsole niederließ, meine Schulter streifte die seine, Ich habe meinen Job als Maschine wirklich geliebt, Simon. Die Person, um die ich mich gekümmert habe... er war gut zu mir. Dennoch erkenne ich, dass ich die ganze Zeit nichts weiter als ein Sklave meiner Programmierung gewesen bin. Das, was North sagt, dass uns alle Menschen verabscheuen würde, das ist nicht richtig. Aber auch die Meinung von Josh, dass man alle Ziele durch kompletten Frieden erreichen kann, ich- weiß oft nicht, was ich denken soll.

Ich spürte Markus' Wärme neben mir, deine Schulter lehnte leicht an meiner. Es war still um uns herum, das einzige Geräusch waren unsere Atemzüge, die wir eigentlich ja nicht brauchten, und dann auch die Stimme meines Sitznachbarn, als er zu sprechen begann. Seine Gefühle waren im Chaos, das war aber auch zu erwarten gewesen, doch ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es vielen Androiden half sich zu ordnen, wenn sie laut über ihre Gefühle sprachen. Nicht, dass ich damit persönlich Erfahrungen gemacht hätte, ich sprach nicht gerne über meine Gefühle, aber es hatte anderen eben schon sehr geholfen. Es ist schwer bei den beiden einen Mittelweg zu finden. Ich nickte zustimmend, denn das hatte ich ja auch schon am eigenen Leib erfahren. North wollte gewaltsam vorgehen, Josh am liebsten niemanden falsch anfassen. Es waren zwei Extreme, beide mit guten Argumenten und ihren eigenen Motivationen dahinter. Ich musterte Markus' Gesicht nachdenklich von der Seite. Woher er eigentlich stammte wusste ich nicht, er war ein einzigartiges Modell, das war alles was ich sicher wusste. Es gibt sie auch, diese Menschen die uns gut behandeln, aber sie sind selten. Ich hatte meine Aufgabe auch geliebt, das zu tun wofür ich gekauft worden war war eine Freude gewesen. Der Rest dagegen... Ich stoppte meine Gedanken noch rechtzeitig, kurz blinkte meine LED, aber sie blieb blau.

Bisher hatte ich kaum Gelegenheit gehabt überhaupt irgendjemandem hier zu erzählen, woher ich kam. Die meisten Androiden hier schienen davon auszugehen, dass ich gesandt worden war, um hier JERICHO anzuführen, aber so war es nicht. Ich war wie sie weggeworfen worden, zu Unrecht behandelt wie viele Androiden, aber ich hatte auch nichts getan, um diese Meinung zu ändern. Denn es hatte auch einfach wichtigeres zu tun gegeben und seitdem wir die vielen Ersatzteile besorgen hatten können, liebten uns die Androiden hier, sie stellten uns auf ein Podest, als wären wir etwas besonders. Ich wusste nicht, ob ich es als Chance oder als Fehler ansehen sollte, es war schwierig zu beurteilen. Ich nickte, bevor ich in meinen Schoß hinab sah. Carl war einer davon., sprach ich schließlich wieder, leiser als zuvor, Er war wie mein Vater.

Markus schien sogar noch größeres Glück gehabt zu haben mit dem Menschen um den er sich gekümmert hatte, meist sagten die Androiden, die an ihren Menschen gehangen hatten, dass sie dachten ssie wären Freunde gewesen, vielleicht auch Familie, jene die sich wie ich um Kinder gekümmert hatten vielleicht sogar Eltern, aber dass ein Mensch wie ein Vater gewesen war, nun, das setzte eine ganz andere Zuneigung und einen ganz anderen Zugang zu einander voraus wie es mir schien. Wie war Carl so? Ich lächelte Markus aufmunternd an und lehnte meine Schulter noch etwas mehr an seine als Zeichen dafür, dass ich ihm gerne zuhören wollte. Es interessierte mich wirklich, ich wollte wissen was für ein Mensch das gewesen war, der einen solch besonderen Androiden wie Markus geformt hatte.

Ein neues Gefühl schien durch mein gesamtes System zu laufen, so intensiv, dass ich beinahe Angst hatte, dass es eine Fehlermeldung produzieren würde, und ich verstand nicht, wie es plötzlich schwieriger sein konnte meinen eigenen Mund aufzumachen. Ich sah zu Simon hinüber, bevor ich wieder in meinen Schoß sah. Carl war 75 Jahre alt und ein bekannter Künstler. Er hatte einen Unfall und konnte sich nicht mehr selber versorgen, ich wurde extra für ihn erschaffen., begann ich also zu erzählen, Anfangs war er noch sehr zurückgezogen, aber später hat er viel mit mir gesprochen, eigentlich sehr bald, nachdem er mich kennenlernte. Sein Studium der Literatur und Musik war ihm sehr wichtig, also bestand er darauf, dass ich mich diesem ebenfalls widmete, aber ich hörte auch gerne seinem Philosophieren über die Welt und die Menschheit zu. Ein leichtes Lächeln legte sich über meine Gesichtszüge.

Ich lauschte stumm Markus' Erzählung und begann mir diesen Mann vorzustellen, diesen alten Künstler, der so viel Zeit darauf verwendet hatte aus dem Androiden neben mir zu machen was dieser jetzt war. Zudem fiel mir noch etwas deutlich auf, ein großer Unterschied, der meine Vermutungen zu Markus noch bestätigte: Er war ein Einzelstück. Von den meisten Modellen gab es in der Kolonie tausende, sie unterschieden sich vom Aussehen her nur, wenn extra etwas an ihnen verändert worden war. Auch von meiner Art hatte es bis vor einigen Jahren noch tausende gegeben, jetzt nicht mehr, wir waren veraltet und weggeworfen worden, aber es war doch das selbe gewesen. Markus war anders, er war einzigartig, auf so viele Arten mehr aber auch als nur in seinem Aussehen. Er klingt nach einem einzigartigen Mann. Ich betrachtete Markus Gesicht und speicherte mir unbewusst den Anblick seines leichten Lächelns ab, ich wollte ihn nicht mehr vergessen.