Carl muss ein ungewöhnlicher Mann sein. Ich fing nur leise an zu sprechen, aber Markus konnte es sicherlich ohne Probleme hören, schon alleine, weil ich so sicht bei ihm war. Denn nur ein ungewöhnlicher Mensch könnte einen ungewöhnlichen Androiden wie dich formen. Ich hatte das Bedürfnis das einmal auszusprechen. Jeder Android war anders, aber Markus stach hervor wie es kein anderer tat, dabei hatte ich in meinem Leben schon viele Abweichler kennengelernt.

Ich nickte und wusste, dass Simon es spüren konnte, so nah wie wir waren, denn er hatte vollkommen recht, Carl war sicherlich ein einzigartiger Mensch. Natürlich waren sie alle genauso einzigartig wie jeder Android, vollkommen egal, was unsere Modellbeschreibungen vielleicht sagten, wir alle hatten unterschiedliche Eindrücke, andere Gefühle und Persönlichkeiten, aber Carl stach für mich definitiv noch einmal zwischen allen Menschen, die ich bisher meistens eher flüchtig kennengelernt hatte, heraus. Du hältst mich für ungewöhnlich?, fragte ich allerdings dann doch mit einem leichten Schmunzeln nach, das konnte man immerhin positiv oder negativ interpretieren.

Ich lächelte selbst leicht und nickte dann selbst auch zustimmend. Ich habe ehrlich gesagt noch nie einen so ungewöhnlichen Androiden wie dich getroffen. Wobei außergewöhnlich vielleicht sogar noch besser passt. Das klingt positiver. Und Positiv war es ja auch, denn nur ein Android wie Markus hatte es sein können, der uns anführen konnte.

Danke, Simon., meinte ich und löste unsere Umarmung dann, wobei ich den Körperkontakt beibehielt und meine Hände stattdessen auf seinen Schultern liegen ließ, links und rechts, unsere Gesichter nahe beieinander, während ich seines musterte. Ich war ihm wirklich dankbar, nicht nur für die Komplimente, sondern auch, dass er seine eigenen Geschichten mit mir teilte und mir bei meinen zuhörte. Ich konnte mir JERICHO niemals ohne ihn vorstellen, egal, wie es die anderen sahen, für mich war Simon noch immer derjenige, der uns alle leitete. Was würde ich ohne dich machen?

Ich vermisste die Unarmung sofort, aber immerhin blieb Markus nahe bei mir, seine Hände auf meinen Schultern, womit ich seine Wärme nicht missen musste, auch wenn sie nicht das einzige war, was ich daran mochte, wenn ich ganz ehrlich war. Genau das selbe was du jetzt auch schon machst, nur ohne eine wohlverdiente Pause. Ich sah Markus in die verschiedenfärbigen Augen, einen etwas fragenden Ausdruck im Blick, denn was sollte er denn sonst tun ohne mich?

Meine Stimmung war insgesamt noch immer mehr als nur gestresst und melancholisch, aber dennoch brachte mich Simon dazu, dass ich sich ein leises, warmes Lachen aus meiner Kehle den Weg an unsere Hörkomponenten drang. Er hatte vollkommen recht, es war gut, dass er für mich da war und mich zu dieser Pause gezwungen hatte. Du hast vollkommen recht., meinte ich, noch immer ein wenig grinsend, Du hast ein Händchen für Humor, wenn du es zeigst. Es war ein ehrlich gemeintes Kompliment, sowie ich auch noch immer der Meinung war, dass das Lächeln von Simon eines der schönsten Kunstwerke war, die ich je gesehen hatte, und das es den Raum erhellte, mehr als so manch andere künstliche Lichtquelle.

Immerhin hatte ich Markus zum Lachen gebracht, das war auch etwas, selbst wenn ich meine Worte durchaus ernst gemeint hatte. Doch das leise, aber umso wärmere Lachen brachte auch mich dazu wieder leicht zu lächeln und ich schüttelte etwas amüsiert den Kopf. Na wenn du das sagst. Ich hob ohne viel darüber nachzudenken die Hand und legte sie auf Markus', die auf meiner Schulter ruhte. Ich bemerkte es selbst nicht, wie sich automatisch die Haut an meinen Fingern etwas zurück zog und damit die weiße Außenhülle meines Körpers zum Vorschein kam.

Ich wusste nicht warum, aber immer wenn ich Simon so sehen konnte, in dieser etwas lockeren Stimmung, war ich wie vollkommen von ihm eingenommen. Wie von einem besonders schönen Kunstwerk, dessen Details man auf den ersten Blick niemals erkennen könnte. Dabei bemerkte ich auch gar nicht, wie sich meine eigene Haut an den Fingern etwas zurückzog, zumindest nicht, bis ich etwas fühlte, wie eine Art Sog, und bevor ich nachdenken konnte, hatte ich bereits unsere Finger miteinander verschränkt. Verbindung hergestellt.

Verbindung hergestellt. Erst als ich diese Nachricht auf meinem HUD sah verstand ich was passiert war, doch es war bereits zu spät, die Verbindung war hergestellt. Erinnerungen, die nicht die meinen waren durchströmten meinen Speicher. Ein alter Mann in einem Rollstuhl saß vor mir, nein, nicht vor mir, vor Markus. Der alte Mann war Carl, er und Markus waren auf einer Party, Carl wollte gehen und drohte damit einen Herzinfarkt vorzutäuschen, Markus lächelte amüsiert. Dann, eine geschäftige Einkaufsstraße, viele Menschen, Protestanten, sie stießen mich, nein Markus, zu Boden und beschimpften ihn. Plötzlich ein neues Gesicht, Leo, Carls Sohn, er wollte Geld von seinem Vater, dieser gab ihm keines. Er begann Markus zu stoßen, Carl wollte nicht, dass er sich wehrte, er tat es trotzdem. Leo stürzte, er lag bewusstlos am Boden, Carl schrie Markus an er solle gehen. Zu spät, Markus wurde angeschossen. Eine Erinnerung jagte die nächste, nacheinander, so viele Eindrücke, Gefühle und Gedanken, Markus' ganzes Leben.

Ehe ich mich versah, hatte ich zugelassen, dass die Verbindung hergestellt wurde. Die Welt um mich herum verschwand und stattdessen blinzelte ich wach und sah mit neuen Augen die Welt.

Es geschah an einem Freitag. Aaron war fast neun und seine Wahrnehmung seiner Krankheit, seiner Sterblichkeit, hatte im Laufe der Jahre langsam zugenommen, als sein Gesundheitszustand hin und her schwankte. Ich fühlte vollkommen neue Gefühle, neue Personen gegenüber, die ich nie gekannt hatte, die ich jetzt aber kannte. Aaron hatte gefragt, ob er sterben würde, eine Woche bevor es passierte. Ich, nein, Simon hatte ihm versichert, dass das nicht passieren würde und ihn umarmt. Aber am Donnerstagmorgen bekam Aaron Fieber. Simon tat alles, was er tun sollte, verabreichte die richtigen Medikamente und informierte Amy und Greg regelmäßig über seine Temperatur. Um elf Uhr nachts stieg Aaron's Fieber noch weiter an und Amy und Greg brachten Aaron ins Krankenhaus. Sie ließen Simon zu Hause, sie brachten ihn nicht ins Krankenhaus, und sie kamen nicht nach Hause oder riefen an, um ihm mitzuteilen, was los war. Simon saß auf dem Stuhl im Wohnzimmer, er rührte das Geschirr nicht an, er hat die Wäsche nicht gewaschen, es gab Dinge, die er tun konnte, aber er konnte sie nicht tun, nicht wenn Aaron's Leben auf dem Spiel stand und er nichts wusste. Stunden vergingen. Kein Wort, kein Anruf, nein, nichts. Und dann kamen Amy und Greg zusammen nach Hause, ohne Aaron. Noch bevor sie hereinkamen, sah Simon sie vom Fenster aus, sah ihre Körpersprache, und er wusste es.

Die Welt kam schlagartig wieder zurück. Meine Augen waren weit aufgerissen und ich ließ Simon's Hand los. Ich habe es gesehen... Ich schüttelte den Kopf, um wieder etwas klarer zu werden. Ich habe... Aaron und dich gesehen.

Ich riss meine Hand zurück, als ich wieder klar denken konnte, als hätte ich mich an Markus' Hand verbrannt. Meine LED blinkte zwischen Gelb und Rot hin und her und ich sah Markus mit einer Mischung aus Angst, Erstaunen und Interesse an. Und ich habe Carl gesehen und... Leon. Aaron... was hat er gesehen? Die letzten Stunden? Was hat er noch gesehen?

Meine eigene LED blinkte gelb, als Simon Leon erwähnte. Ich erinnerte mich noch zu genau an den Geruch von Carl's Bibliothek, an die Farben in seinem Atelier und daran, wie das Licht durch die großen, verzierten Fenster des Hauses gedrungen war. Ich erinnerte mich an Carl's freundliches Lächeln und seine gute Laune, seine Zuneigung. Zuneigung, die nicht verblasste, selbst als er geglaubt hatte, ich hätte seinen Sohn getötet. Leon lebte noch, das wusste ich, Carl würde es auch wissen, aber Carl wusste nicht, was mit mir geschehen war. Ich habe dich bei den Scofields gesehen und... Mein Erstaunen wandelte sich rasch hin zu purem, eiskalten Schock, als sich meine Augen weiteten und meine LED nun endgültig ebenfalls rot verfärbte. ...Amy.

Meine LED stand nun auf einem soliden, unbeweglichen rot, als ich verstand was Markus da noch alles gesehen haben musste. Stresslevel: 87% Ich fuhr noch weiter zurück und fiel fast von meinem Sitzplatz neben Markus, so schnell versuchte ich von ihm wegzukommen. Nein, nein, nein! Er kann das nicht wissen!

Vorsichtig hob ich meine Hände, um sie vor mich zu halten, während ich mich ebenfalls von der Steuerkonsole erhob, dann aber einen Schritt nach hinten machte, von Simon weg. Simon?, versuchte ich ihn vorsichtig anzusprechen, während ich erst einmal stehenblieb, ohne mich weiter zu bewegen. All diese Gefühle und Erinnerungen, die nicht meine waren, durchfluteten noch meinen Speicher und ich wusste nicht so recht, wie ich damit umgehen sollte, während sich mein Stresslevel deutlich erhöhte und ich Simon besorgt musterte.

Ich starrte Markus mit vor Entsetzen geweiteten Augen an, meine Brust hob und senkte sich in raschen Stößen, auch wenn ich ja natürlich nicht zu atmen brauchte, aber normalerweise war es auch eher beruhigend, in diesem Falle war das allerdings weniger gegeben. Nein. Nein, nein, nein, du hast nichts davon gesehen. Ein fast hysterisches, aber deutlich verzweifeltes Lachen entkam mir, ich wusste auch nicht woher das so plötzlich gekommen war, doch es riss sich aus meiner Kehle los, während ich zurück zur Tür wich.