“You know, you´ve reaped what you have sown,
you know you´re the reason you´re alone.
You said I was your superhero,
but sometimes superheroes cannot save everyone."

~Hayd – Superhero

Der leere Blick war hinter Vanirs Maske nicht zu erkennen. Red jedoch konnte genau fühlen, wie leer er sein musste. Wie leer es in dem Schurken aussah, seit sein kleiner Schützling in einem so zarten Alter gestorben war. Und dem war auch so. Es war, als hätte sein ganzes Leben den Sinn verloren. Noch immer konnte sich der Maskierte daran erinnern, wie sie blutend in seinen Armen lag und ihm weinend sagte, dass sie nicht sterben wolle. Sondern, dass sie noch leben und so viel Zeit mit ihm verbringen wolle. Nie hatte er gedacht, dass jemand wie sie, so zart und doch zäh wie eine Blüte im Winter, sein Herz so berühren konnte. Ehe er es richtig realisiert hatte, hatte sein Herz bereits nur noch für sie geschlagen. Sein kleiner Schatz. Sein geflügelter Engel. Sein Leben. Auch wenn der Bösewicht es nie hatte zugeben wollen, so hatte sie doch eine gute Seite in ihm geweckt. Er hatte sie nur beschützen wollen – doch es war ihm nicht gelungen. Stattdessen war sie durch seine eigene Dummheit verletzt worden.

Er hatte ihr in die sonst so leuchtenden, braunen Augen gesehen, die so voller Angst waren, dass sich sein Herz schmerzhaft zusammen zog. Mit zitternden Fingern hatte er einhändig sein Intercom heraus geholt und verzweifelt die Nummer einer Person gewählt, die er nur zu gerne gequält hatte – doch jetzt wünschte er sich niemand anderen an seiner Seite, um sie zu retten. Er wusste, dass er es konnte und in diesem Moment konnte er niemand anderen um Hilfe bitten. In diesem Augenblick konnte er die RESISTANCE nicht darum bitten, ein kleines Mädchen zu retten, denn das brachte ihnen keine Vorteile. Verzweifelt hatte der Anzugträger in sein Intercom ihn angebrüllt, zu kommen. Er würde mit allem bezahlen, selbst wenn er die RESISTANCE dafür verlassen und im Exil leben müsste. Selbst wenn er seinen Hass aufgeben und keinen einzigen Menschen mehr quälen durfte. Das war sie ihm wert. Sie hatte in ihm etwas aufleben lassen, von dem er geglaubt hatte, dass es mit den Experimenten seines Vaters gestorben war.

Mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde Vanir nervöser, denn er wusste, es blieb nicht viel Zeit. “Onkel Vanir… hast du… mich lieb gehabt?“, konnte er die schwache Stimme seiner Ziehtochter erkennen und er sah zu ihr hinab. “Spar dir deine Kraft. Red wird gleich hier sein. Ich lasse nicht zu, dass du -“, wollte er erwidern, doch sie unterbrach ihn, fragte schwächer, aber eindringlicher: “Ha-hast du… mich lieb… gehabt?“ Der Bösewicht stockte. War es ihm überhaupt erlaubt, jemanden mehr zu lieben, als sich selbst? Wann hatte das angefangen? Wann war er so schwach geworden? Wie hatte sie das geschafft? Auf all diese Fragen fand er keine Antwort, doch gerade war anderes wichtiger. Kurz darauf warf er sein Intercom zur Seite. Seine sonst so weißen Handschuhe waren feucht durch das Schlamm und das Blut des einen Menschen, der ihm mehr bedeutet hatte, als sein Leben. Vorsichtig strich er über ihre Wangen, die Tränen fort, die sie weinte. Er wollte nicht, dass sie weinte. Das alles hier hatte er nie gewollt. Ob sich vielleicht etwas geändert hätte, wenn er nachgegeben hätte? Wenn er sich Red mehr zugewandt und versucht hätte, all das hinter sich zu lassen? Um sich dieser Überlegung hinzugeben, war es bereits zu spät. “Ich hab dich lieb, mein Schatz…“, brachte er heraus, ehe seine Stimme brach, und er schlucken musste, um noch mehr zu sagen, “ich habe dich immer geliebt. Und ich werde es immer tun.“ Doch während er sich und ihr das eingestand, konnte er sehen, wie das letzte bisschen Licht aus den sonst so funkelnden, braunen Augen des Mädchens verschwand, und ihr Körper damit das Leben verließ. “Red Riding Hood!“, zerriss sein Brüllen den Nachthimmel. Dieses Mal hatte er es ernst gemeint. Und dieses Mal hatte er sich wirklich auf den Anführer der Heldenorganisation verlassen, er hatte ihm vertraut. Und er war bereit gewesen, sich ganz auf ihn, auf seine lächerlichen Ideale und Wünsche einzugehen, sich auf ihn einzulassen. Dafür musste er jetzt wohl teuer bezahlen. Das war das Ende des großen, maskierten Dämons.

Es war am heutigen Tag einer dieser Momente, in denen dem Anführer der Heldenorganisation die Worte fehlten. Jeder dämliche Witz blieb ihm in der Kehle stecken. Donnergrollen erfüllte die Luft, während der Regen auch ihn binnen von Sekunden durchnässt hatte. So viele Puppen hatte der Held bei Vanir noch nie gesehen. Wochenlang war er nicht mehr auf den Plan getreten und hatte sich nicht gezeigt, nach jenem schicksalshaften Tag. Als der Bösewicht bei dem Helden angerufen hatte, wollte Red ursprünglich nicht dran gehen. Doch sein Bauchgefühl hatte ihm gesagt, dass er den Anruf entgegen nehmen sollte – nein, sogar musste. Dass Vanir ihn so verzweifelt anflehen würde, seine Ally zu retten, hatte er nicht erwartet. Nicht einmal, dass er sogar die RESISTANCE verlassen würde, wenn seine kleine Tochter weiterleben durfte. Natürlich hätte es mal wieder eine Falle sein können, doch er musste einfach schauen, ob er helfen konnte. So verzweifelt wie er geklungen hatte, musste es dieses Mal die Wahrheit sein. Jedoch hatte ihn auf dem Weg dorthin ein weiterer Notfall aufgehalten, sodass es ihm nie gelungen war, den verzweifelten Bösewicht zu erreichen – und Ally war gestorben. Bis heute machte er sich Vorwürfe und erst jetzt wurde ihm bewusst, was das mit Vanir gemacht hatte. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass dieses Mädchen dem so gefühllos wirkenden Bösewicht mehr bedeutet hatte, als sein eigenes Leben. Gleichzeitig erfüllte ihn eine Furcht, die ihn erstarren ließ. Vanir stand bewegungslos da. Rührte sich nicht. Sprach nicht. Nichts. Nur er. Und eine schiere Anzahl an Puppen, die er nicht zählen konnte – es waren jedoch so viele, dass eine Explosion in diesem Ausmaß nicht nur viele Verletzte hervor bringen würde, nein, er konnte damit sogar die gesamte Kolonie mit einer Explosion weg fegen und es aussehen lassen, als hätte hier niemals jemand gelebt.

Die zitternden Hände des Helden ballten sich zu Fäusten und er wusste genau, er musste etwas unternehmen. Er schluckte und nahm seinen ganzen Mut zusammen, um sich in Bewegung zu setzen. Überall waren diese Puppen, die mit nur einem Schnipsen explodieren und ihn mit in den Tod reißen würden. Eine Explosion in diesem Ausmaß würde selbst der maskierte Dämon nicht überleben, sie würde seine Maske in Stücke reißen. “Vanir, bitte, komm zur Vernunft, glaubst du, Ally hätte das hier gewollt? Denk doch an sie. Das hätte sie sich sicher nicht gewünscht“, versuchte er, zu ihm durchzudringen, doch er bekam keine Antwort. Nicht einmal ein einziger Muskel zuckte. Doch er konnte nicht aufgeben und kämpfte sich weiter durch die Puppen, von denen sich bereits einige an seinen Beinen fest geklammert hatten. Viele waren bereits am Anzug von Vanir hoch geklettert und bedeckten ihn fast wie eine zweite Haut. Immer wieder versuchte er, während er einen Fuß vor den anderen setzte und sich vor kämpfte, seine Angst in den Hintergrund drängte, zu dem Anzugträger durchzudringen, doch dieser reagierte einfach nicht, als sei er eigentlich gar nicht da. Langsam hob er die Hände, die Handschuhe dunkelbraun von Schlamm und Blut – es musste sich um Allys Blut handeln, wie Red Riding Hood vermutete. “Nein, Vanir, tu das nicht!“, rief er verzweifelt. Endlich hatte er den Maskierten erreicht und schlang seine Arme um ihn. Bis heute quälten ihn die Schuldgefühle, weil es ihm nicht gelungen war, das kleine Mädchen zu retten. Er konnte sie vor sich in seinen Träumen sehen und machte ihn fertig.

“Vanir, bitte, du darfst das nicht tun! Ally hätte nie gewollt, dass du so vielen weh tust!“, versuchte er es erneut, doch Vanir schüttelte nur den Kopf: “Es spielt keine Rolle mehr, was sie gewollt hätte.“ Sein Herz war so schwer, als würde es gleich zerbersten oder sie beide bis tief unter die Erde ziehen. Innerlich wünschte sich der Anführer der Mission COURAGE sich das sogar, denn dann würde nur er seinen Zorn abbekommen – alle anderen aber wären gerettet. Doch dann, als Vanir langsam die Arme um ihn schloss, glaubte er, vielleicht endlich zu dem Bösewicht durchgedrungen zu sein. Dieser drückte sich fest und halt suchend an ihn, er konnte deutlich spüren, wie die Puppen von ihm auf ihn kletterten und sie beide schon bald einhüllten wie ein Kokon. Nicht nur der Angst wegen lag eine elektrisierende Spannung in der Luft, die dem Helden die Luft zum Atmen nahm. Wenn er schon nicht Allys Leben hatte retten können, so würde er es vielleicht schaffen, Vanir zu retten. Das hätte sie sich sicher gewünscht. “Nimm ihren Namen nicht in den Mund. Du hast nicht das Recht, über sie zu sprechen“, kam es von dem Bösewicht, der sich schließlich langsam vorbeugte.

Nun schwebten seine Lippen direkt neben dem Ohr von Red. Schon vorhin hatte die Stimme Vanirs so schmerzerfüllt geklungen, dass es ihm beinahe das Herz zerriss. Einige Sekunden geschah nichts, es war nur das Prasseln des Regens und fernes Donnergrollen zu hören, nachdem Blitze kurzzeitig diese graue Welt in helles Licht tauchten, ehe er den maskierten Dämon wieder reden hörte: “Ein einziges Mal habe ich nicht mit dir gespielt und mich wirklich auf dich verlassen. Du hättest sie retten können. Du hättest mich retten können.“ Für eine Sekunde blieb sein Herz stehen. Er hätte das alles wirklich verhindern können. Alles. “Vanir…“ In dem Moment, als er das Fingerschnipsen hörte, wusste er, dass alles vorbei war. Für ihren letzten, gemeinsamen Augenblick ging ihm der letzte Vers eines Songs durch den Kopf, den er zuletzt gehört hatte…

“But sometimes superheroes cannot save everyone.”